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Karona

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New PostErstellt: 28.01.09, 09:07     Betreff: Re: 20 Jahre Mauerfall - Deutschland einig Vaterland?

Textauszug aus: Wolfgang Herles, Wir sind kein Volk – Eine Polemik, 2004

»Eine schlechte Nachricht. Die Mauer ist gefallen.«
»Aber wieso denn, das ist sie doch schon vor 15 Jahren?«
»Na, wenn das keine schlechte Nachricht ist!«
Jeder TV-Comedian hat heute solche Ossi-Witze auf Lager, dieser ist von Harald Schmidt.
Der Fall der Mauer war tatsächlich eine fantastische Nachricht. Aber das, was danach kam, hat den Deutschen die Glücksgefühle gründlich ausgetrieben. Rund 80 Millionen Bewohner dieses Landes besitzen einen deutschen Pass. Sie sind ein Staatsvolk. Aber ist dieser Staat wirklich das, wovon die Ostdeutschen träumten, als sie Wir sind das Volk und dann bald Wir sind ein Volk riefen? Sind die Deutschen nun das »einig« Volk, welches auch die Westdeutschen gern gehabt hätten?
Die Behauptung, die Deutschen seien ein Volk, ist immer noch eine Vision, wenn nicht gar eine Utopie. Die staatliche Zusammenfügung ist gelungen, das Projekt der Einheit aber nicht. 15 Jahre nach dem Fall der Mauer fällt die Bilanz bitter aus.
Der »Kanzler der Einheit« stand damals ähnlich unter Naturschutz wie George W. Bush in den USA nach dem 11. September 2001. Das ganze Land, auch und gerade die Medien, fügte sich einem unausgesprochenen Denkverbot. Damals galt als Vaterlandsverräter, wer das hastige Zusammennageln zweier Gesellschaftsordnungen nicht für kluge Politik halten wollte.
Der Einheits-Pfusch ist heute jedermann bewusst, sogar den Pfuschern selbst. Allerdings führen sie noch immer mildernde Umstände an. Mehr noch: Sie glauben, eine großartige historische Leistung vollbracht zu haben, die sie unsterblich macht. Aber auch die Bürger von Schilda sind unsterblich.
In den ökonomischen Fehlern, in den Illusionen und Lügen der Vereinigungspolitik sind die Ursachen des Desasters zu erkennen. Dahinter gibt es weitere, tiefere Ursachen. Mit ihnen beschäftigt sich dieses Buch. Es bleibt nicht stehen bei der Analyse der falschen Entscheidungen, sondern fragt nach den Gründen, die zu den Irrtümern führten.
Ein deutscher Patriot lässt sich von erwiesener Talentlosigkeit und Unvermögen der Fußballnationalmannschaft nicht beirren. Er glaubt an den Sieg, schon deshalb, weil er von der Existenz so genannter deutscher Tugenden überzeugt ist. Vom Kampf bis zur letzten Patrone ist schnell die Rede, als handle es sich um eine Schlacht, nicht um ein Sportfest. Und schon ein dürftiges Unentschieden lässt die patriotische Bild-Zeitung jubeln: »Wir sind wieder wer.« Glück wird gern mit Verdienst verwechselt, weshalb die nötigen Konsequenzen und Reformanstrengungen ausbleiben. Dieses Buch handelt nicht von Fußball, aber von den Illusionen der Patrioten. Der Zustand des deutschen Fußballs ist nur ein schönes Gleichnis für den Zustand der Republik.
Die These dieses Buchs mag manchen Patrioten provozieren. Sie lautet: Falsch verstandener Patriotismus hat den Niedergang Deutschlands beschleunigt. Für Patrioten war die Wiedervereinigung ein Unternehmen, das mit skeptischer Vernunft zu prüfen und ins Werk zu setzen sich von selbst verbot. Es durfte nur das patriotische Herz sprechen, nicht der Verstand. Patrioten sind von der fixen Idee besessen, dass die totale Einheit das totale Glück der Deutschen sei. Aber das vergebliche Streben nach der totalen Einheit mindert das Glück sehr vieler Deutscher beträchtlich.
Patrioten jammern heute gerne über die Folgen ihrer Politik, führen sie aber eher auf mangelnden Patriotismus denn auf ihr eigenes Versagen zurück. Diese Selbsttäuschung ist typisch für Patrioten. Ähnlich religiösen Fundamentalisten können sie die Hermetik ihrer Vorstellungswelt nicht durchbrechen. Patriotismus ist gut, kann also nichts Schlechtes bewirken, glauben sie. Ihr Irrtum ist, sich ganz der Sache der Nation zu verschreiben, statt der Sache der Menschen. Die Nation ist ihr Goldenes Kalb, dem sie die Vernunft opfern. Die nationale Einheit hätte niemals die erste Priorität der Politik sein dürfen, sondern der Wohlstand, das Glück der Menschen in beiden deutschen Gesellschaften. Ein Patriot aber, der kein Menschenfreund ist, sondern nur deutsch oder englisch oder polnisch denkt, leidet an einer besonderen Form der Beschränktheit. Nicht nur die nationalistischen Perversionen des Patriotismus sind gefährlich, sondern jede Fesselung des Gemeinsinns an die Idee der Nation.
Heute geht es nicht mehr zuerst um Einheit zwischen Ost und West – was auch immer man inzwischen darunter verstehen mag –, sondern darum, ein vom Vereinigen ramponiertes Land wieder in Ordnung zu bringen. Das ist nicht nur eine Frage von Wirtschaft und Finanzen, nicht nur eine Aufgabe für den mitgenommenen Sozialstaat. Die verkorkste Einheit hat auch tiefe immaterielle Schäden angerichtet. Sie werden noch immer weit unterschätzt. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen den materiellen Folgen der Einheit und der Reformresistenz der Deutschen. Die Einheit hat die Menschen so überfordert, dass sie weitere Veränderungen ablehnen.
Dazu kommt eine unausrottbare DDR-Mentalität. Sie entpuppt sich beim näheren Hinsehen durchaus als besondere Form einer tief in die Geschichte reichenden deutschen Eigenart. Von dieser »deutschen Krankheit« ist in diesem Buch die Rede. Während des Kalten Krieges gab es das Kuratorium Unteilbares Deutschland. Vielleicht wird es allmählich Zeit, ein Kuratorium Unheilbares Deutschland zu gründen.
Es waren wohl auch die nationalen Tabus, die aus dieser Wiedervereinigung das reine Missvergnügen gemacht haben. Tabuisiert wird bis heute der Beitrag der Ostdeutschen am Niedergang des Landes. Aber es gehört zur politisch korrekten Sicht auf die Dinge, die Ostdeutschen generell als Opfer, die so genannten Besserwessis dagegen als Täter zu sehen. Den verdorbenen Eintopf angerichtet haben in der Tat die westdeutschen Chefköche. Und ein Teil der Besserwessis waren zynische Profiteure, Spekulanten oder einfach nur Taugenichtse, die im Osten ihr Glück versucht hatten. Aber inzwischen muss doch jedem klar sein, dass die Besserwessis nur ein Teil des Problems sind.
Ein anderer Teil sind die Verständniswessis. Nicht die Mauer in den Köpfen ist heute zu beklagen, sondern die Mauer vor den Köpfen. Es ist auch eine Mauer des Schweigens. Politisch korrekt ist es, in den Ostdeutschen arme, gedemütigte Wesen zu sehen, die Anspruch auf besondere Rücksicht besitzen. Wenn wir aber schon ein Volk sein wollen, dann gibt es 15 Jahre nach dem Fall der Mauer keinen Grund mehr, Ostdeutschen wie Fremden zu begegnen, die höflich bewirtet und beherbergt werden, man aber froh ist, wenn sie wieder abreisen. Sie reisen nicht mehr ab.
Warum soll der westdeutsche Steuerzahler die kostspielige Mentalität des Ostens immer nur unwidersprochen schlucken? Umgekehrt ist dankbare Leisetreterei das Letzte, was der Westler vom Ostler erwarten sollte. Es herrscht aber in Deutschland ein perfides, politisch korrektes Kritikverbot. Der aus dem Osten stammende Journalist Jens Bisky hat die Lage so beschrieben: »Die Wahrheit über den Osten bedarf der Zustimmung der Ostdeutschen, weil nur auf diese Weise Authentizität zu sichern ist. Ostdeutschland wäre dann eine Zone, in der besondere Bedingungen der Wahrheitsfindung gelten.« Diese totalitäre Logik sollten die Deutschen nicht länger akzeptieren.
Doch richtet sich diese Polemik nicht gegen den Osten. Sie attackiert die Lebenslügen, Selbsttäuschungen und Tabus der ganzen Nation. Zum fünfzehnten Jahrestag des Mauerfalls werden nun wieder »Glück« und »einig Vaterland« beschworen. Die Deutschen reden sich die Sache noch immer so schön es irgendwie geht und verdrängen die wahren Ursachen ihres Versagens. Der Kanzler allen voran. Beim Besuch einer Werft in Wismar, in der heute noch 1300 von einmal 6000 Menschen arbeiten, geriet er ins Schwärmen: »Wer einen Wachstumskern sehen will, muss hierher kommen.« Bei jedem Schiffsneubau übernimmt der Staat 6 Prozent der Kosten. Was, um Himmels willen, soll daran mustergültig sein?
Das »Glück der Geschichte« ist zu einer Art Mantra des real existierenden Einheitsdesasters geworden. Dieses Glücksgerede reizt zur polemischen Gegenrede.
Es weidet eine ganze Herde heiliger Kühe auf der abgegrasten Einheitswiese. Heilige Kühe werden nicht geschlachtet. Man wartet, bis sie vor Entkräftung verenden. Es wäre besser, die Messer zu wetzen. Schlachten wir die Illusionen! Was Deutschland braucht ist mehr kühle Rationalität, Verstand und Willenskraft und weniger patriotische Inbrunst.






Ideale sind wie Sterne,
Man kann sie nicht erreichen,
Aber man kann sich an ihnen orientieren.

(Carl Schulz)
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